Sozialdokumentarische Fotografie
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Thema: Form und Inhalt. Oder: Gibt es eine "sozialdokumentarische Ästhetik"?
 
 
Timm Starl in seiner Stumberger-Rezension
 
 
"Die Verunstaltung der Vorlage [eines Bildes kpw] steht auch für das Versäumnis, dass allzu selten auf die ästhetischen Aspekte der bildlichen Hervorbringungen eingegangen wird. Wenn Jeff Walls Inszenierungen der 1980er Jahre „ein sozialkritischer Inhalt“ attestiert wird (II, 153) und in Herlinde Koelbls Aufnahmen ein „subtiler kritischer Ton“ erkannt wird (II, 212), stellt sich die Frage, mit welchen fotografischen Mitteln denn Kritik artikuliert wird. Einmal davon abgesehen, dass es generell für die gesamte „sozialdokumentarische Fotografie“ von Interesse wäre, in welchem Verhältnis inhaltliche und gestalterische Entwicklungen zueinander stehen und aufeinander bezogen werden können. Ich denke dabei zum Beispiel an das steigende Selbstbewusstsein von Industriearbeitern seit dem 19. Jahrhundert und inwieweit diese veränderte Haltung zu anderen fotografischen Darstellungsmodi geführt hat." {Starl 2011 #3195D}

 

 
Taugt der Begriff was? Starl meint: nein
"In dem umfangreichen Abschnitt zu den „Konstitutionsbedingungen sozialdokumentarischer Fotografie“ (I, 159 bis 216) bringt der Autor mehrere schematische Darstellungen ein, in denen die Differenzen der Projekte zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und den 1930er Jahren anschaulich gemacht werden. Es zeigt sich nämlich, dass lediglich die nahezu zeitgleichen Aktivitäten von Riis und Drawe stärkere Gemeinsamkeiten aufweisen. Doch das kann nicht verwundern angesichts der Protagonisten vor und hinter der Kamera, deren ähnlich gelagertem Umfeld, denselben thematischen und motivischen Schwerpunkten und derselben Mittel, mit denen die Fotografien in die Öffentlichkeit gebracht wurden. Über die beiden Projekte in New York und Wien hinaus offenbart sich in dem Versuch, sämtliche Werkgruppen nach einheitlichen Kriterien zu ordnen, ein Schematismus, der nur formal die Projekte zu vereinen imstande ist. Oder anders ausgedrückt: Es erweist sich die Untauglichkeit eines Begriffes, der nicht mehr abgibt als eine Überschrift für gänzlich differente Erscheinungen, die jeweils nur durch spezifische Analysen und Zuschreibungen Konturen gewinnen."
 
Gesichtspunkte zur Erfassung sozialdokumentarischer Fotografie. Starl zitiert Stumberger zustimmend, meint jedoch, dass letzterer das Programm nicht einlöst.
"Entschieden wendet sich Stumberger gegen die gängigen Analysen, die sich mit dem biografischen Werdegang der Fotografen sowie der Interpretation und dem Vergleich von Bildentwürfen begnügen. Denn dann „schiebt sich das Bild [...] derart in den Vordergrund, dass es den Hintergrund vergessen lässt. Der Hintergrund des Bildes liegt im Schatten des Lichtes, in dem sich der Bildinhalt sonnt [...] Was ist nun dieser Hintergrund? Er ist nichts anderes als die Summe der Entstehungs- und Seinsbedingungen der Bilder [...]“ (I, 20). Deshalb sei gleichermaßen den „ökonomischen (wer bezahlt den Fotografen?), ideologischen (was für ein soziales Verständnis von Welt steht hinter dem Fotografen?), organisatorischen (durch welche Gruppe, Partei, Staatsagentur?), inhaltlichen (welche soziale Klasse wird dargestellt?), funktionalen (warum und zu welchem Zweck?) und medialen Bedingungen (warum Fotografie?)“ (I, 35) der Projekte nachzugehen." {Starl 2011 #3195D}

 

"Stumbergers Verdienst liegt in den Hinweisen auf die vielfältigen Faktoren, die zu sozialen Dokumentationen führen können, das Engagement der Bildautoren beeinflussen und auf die Herstellung und Bekanntmachung der Fotografien einwirken. Damit hat er manche Aktionen und Kampagnen in ein neues Licht gestellt. In der teilweise willkürlichen Einbringung und Beurteilung von Bildleistungen nach wechselnden Kriterien hat das Genre jedoch eine nur ungenaue Bestimmung erfahren. Eine Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie steht also noch aus."{Starl 2011 #3195D}
 
 
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